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Susanne Weigelin-Schwiedrzik: "Die Regierungen in Ostasien sind krisenerprobter"

"Wir müssen die Situation in China genau analysieren", so Susanne Weigelin-Schwiedrzik. Dem Land ist es gelungen, COVID-19 großflächig einzudämmen. Was Europa daraus lernen kann und wie China heute gegen ein "anti-chinesisches Gefühl" kämpft, erzählt die Sinologin im Interview.

Sie sagen, das Misstrauen der chinesischen Bevölkerung gegenüber der Regierung sei groß. Wie hat diese es trotzdem geschafft, dass die restriktiven Corona-Maßnahmen so gut eingehalten wurden?
Susanne Weigelin-Schwiedrzik: Heute sehen wir, dass es dieses Misstrauen auch zwischen Bevölkerungen in Europa und ihren Regierungen gibt. Das ist ein Problem. Wie hat die chinesische Regierung dieses in den Griff bekommen? Zum einen ist sie sehr hart und scharf gegen die Bevölkerung vorgegangen, indem sie strenge und weitreichende Mittel eingesetzt hat, um die Ausgangssperre durchzusetzen. Auf der anderen Seite war die Gesellschaft zur Kollaboration bereit. In Abwägung der Gefahr durch das Virus hat sie mehrheitlich entschieden, sich den Regelungen der Regierung zu unterwerfen. 

Anfangs haben mich viele Journalist*innen gefragt: Wie ist das möglich? Meine Antwort war: In der Angst vor einer Ansteckung sind die meisten Menschen bereit, solche Einschränkungen hinzunehmen, wenn es dadurch eine größere Chance gibt, nicht angesteckt zu werden. Das haben die Leute damals in Europa nicht nachvollziehen können, ich glaube heute tun sie das. Doch die Regierungen in Europa sind weniger krisenerprobt als die Regierungen in Ostasien, wo ja erhebliche Naturkatastrophen quasi auf der Tagesordnung stehen, d.h. die verschiedenen Ebenen sind besser darauf eingespielt. In China gab es zudem vor einigen Jahren SARS und den starken Ausbruch der Schweinegrippe. Damals wurden ähnliche Maßnahmen gesetzt. Für uns ist das neu.

Was kann man sich von den ostasiatischen Ländern im Umgang mit der Krise abschauen?
ist wichtig, dass wir die Situation in China genau analysieren und verstehen: Was sind Maßnahmen, die in China bereits Konsequenzen zeigen und die wir auch ergreifen können? Was sind hingegen Maßnahmen, die wir aufgrund unseres gesellschaftlichen Lebens, unserer politischen und ökonomischen Strukturen nicht setzen können? Seit Ende Januar hat man sich in Europa und den USA darauf eingestimmt, sehr viele der chinesischen Maßnahmen als Ergebnis des autoritären Regimes zu betrachten. 

Dadurch haben wir Vorbereitungszeit verloren und wichtige Beobachtungen in dieser Phase versäumt. Zwar habe ich immer wieder erzählt, was in China passiert und wie die Menschen dort auf die Maßnahmen reagieren. Es war jedoch erstaunlich, dass die Leute das zwar interessant fanden, aber es so gar nicht auf unsere Gesellschaft beziehen konnten. Der chinesischen Regierung wurde vorgeworfen, zu zögerlich reagiert zu haben. Fakt ist aber, dass auch Entscheidungsträger*innen in Europa so lange wie möglich gewartet haben. 

Interessant ist auch die Tatsache, dass wir in China einen starken Ausbruch hatten, der mit Wuhan regional auf eine sehr große Stadt beschränkt war. Die Auswirkungen auf andere Gebiete im Land und in der Nachbarschaft sind verhältnismäßig klein. In Europa haben wir das große Problem, dass der Virus von Staat zu Staat springt. In Taiwan haben die Universitäten schon Anfang Februar geschlossen, was man auch an den Zahlen sieht. Selbst in Hongkong, wo die Grenzen lange Zeit offen waren, sind die Zahlen relativ niedrig. Was haben diese Länder gemacht, damit das exponentielle Wachstum gar nicht erst einsetzt?

China und Südkorea liefern gerade Millionen Schutzmasken, Laborkittel, Handschuhe, Sauerstoffmasken nach Europa – ein Zeichen der Solidarität oder steckt da Kalkül dahinter?
Das ist von China ausgegangen. In Europa sind besonders jene Länder betroffen – ich spreche es jetzt ganz bewusst offen aus –, in denen der Anteil der chinesischen Bevölkerung besonders hoch ist. Die chinesische Regierung versucht dem anti-chinesischen Gefühl, welches sich in der Welt verbreitet und das zum Beispiel auch Präsident Trump unterstreicht, indem er von einem China-Virus spricht, entgegen zu arbeiten. Sie sagt: "Wir wissen, dass die Krankheit bei uns zum ersten Mal ausgebrochen ist. Wir sind schon etwas weiter und helfen euch, die Konsequenzen zu minimieren und das besonders gefährdete ärztliche Personal zu schützen." Das ist ein Grund, warum China so handelt und das sollte nicht gleich als expansionistischer Kurs gedeutet werden. 

In Südostasien ist es im 20. Jahrhundert immer wieder zu schwerwiegenden Ausschreitungen gegen Chines*innen gekommen, in Amerika kauft sich die chinesische Bevölkerung bereits Waffen, weil sie der Meinung ist, dass das Land sie nicht schützen kann. Mit der Botschaft "Wir nehmen unsere Verantwortung wahr, wir schicken Ärzt*innen und Ausrüstung nach Italien und produzieren so viele Beatmungsgeräte wie möglich", zeigt die chinesische Regierung ein verantwortungsbewusstes Verhalten uns und der eigenen Bevölkerung gegenüber.

Der an COVID19 verstorbene chinesische Arzt oder der Bürgermeister von Wuhan warnten schon früh vor Corona, worauf die Regierung lediglich mit Verboten oder Verleumdung reagierte. Glauben Sie, dass Corona China in eine politische Krise stürzen könnte?
Die Frage wurde mir in den vergangenen Wochen oft gestellt. Weltweit denken die Regierungen darüber nach, wie sich die Krise auf die politische und soziale Stabilität auswirkt. Das ist in einem Land mit einer Einparteienherrschaft ein noch größeres Problem als in einem Land mit demokratischer Struktur, weil es ja keine Alternative zu dieser Partei gibt. Ist die Bevölkerung der Meinung, dass der Staat unter Führung dieser Partei unfähig ist, eine Krise zu meistern, dann kann das ganze System daran zerbrechen. Deshalb ist die Nervosität in China besonders groß. Dieses Einparteiensystem hat immer wieder Schwierigkeiten abzuwägen: Wie kann man Kontrolle ausüben und wie kann man Kontrolle abgeben? 

Wir denken, in einem autoritären Staat seien alle Menschen aufeinander abgestimmt und gehorchen. Das ist aber nicht der Fall. In einem autoritären System gibt es viele verborgene und nicht verborgene Konflikte. Das autoritäre System ist in einer solchen Krisensituation besonders gefährdet. Und diese besondere Gefährdung verhindert, dass das System rational und transparent reagiert. Stattdessen versucht es die Augen so lange wie möglich vor der eigenen Gefährdung zu verschließen. 

In der Provinz Hubei standen 60 Millionen Menschen zwei Monate lang unter Quarantäne. Was macht das mit den Menschen und vor welchen
Die Menschen reagieren sehr vielfältig. Es gibt Leute, die unheimlich ängstlich oder nervös geworden sind und es gibt solche, die dem chinesischen System kritisch gegenüber stehen. Wieder andere sagen: Sowas passiert, da muss man sich drauf einlassen und der Regierung mit ihren Maßnahmen folgen. In China konkurriert eine wissenschaftlich geprägte Vorgangsweise allerdings immer mit dem Aberglauben. Die Menschen denken, sie werden von irgendwelchen Kräften dafür bestraft, über ihre Verhältnisse gelebt zu haben. Das ist noch stark in der Gesellschaft verankert und führt dazu, dass sich die Leute damit arrangieren und sagen: "Wenn wir jetzt schon bestraft werden, dann sollten wir lieber brav sein und nicht aufmüpfig die Regierung stürzen." So sehr die einen an die Kraft der Wissenschaft glauben, so sehr halten andere am Aberglauben fest.

Wie kann man sich den Rückgang zur Normalität in Hubei vorstellen? Was sind die ersten Schritte?
Wir haben bereits in den letzten Wochen die sogenannten Wanderarbeiter*innen beobachtet: Diese leben auf dem Land, arbeiten aber in den Städten und werden Schritt für Schritt mit großem organisatorischen Aufwand in die Städte zurück gebracht, um die Produktion wieder anlaufen zu lassen. Die Normalisierungsphase fing schon viel früher an, als wir das mitbekommen haben. Zudem sind viele Ärzt*innen und das Militär nach Wuhan gebracht worden, um die dortige Situation zu unterstützen. Auch diese Menschen werden jetzt sukzessive zurückgeführt. Hier müssen sie jetzt sehr vorsichtig sein, den Virus nicht versehentlich von Wuhan in die anderen Städte zu bringen.

Während China jetzt in den "Normalzustand" zurückgeht, wartet der Rest der Welt noch auf den Peak. Kann das nicht nach hinten losgehen?
Ja, es ist die große Sorge, dass die nächste Welle nach der gelungenen Eindämmung dadurch einsetzt, dass die Leute den Virus von außen wieder mitbringen. Vor allem weil sehr viele Chines*innen im Ausland leben. Daher werden drastische Vorkehrungsmaßnahmen getroffen: Einreisende werden sehr streng unter Quarantäne gestellt, sie werden in speziellen Gebäuden, zum Teil auch in Hotels untergebracht, wo sie warten müssen, ob sie innerhalb von zwei Wochen erkranken oder nicht. 

In China schätzen Expert*innen, dass die Maßnahmen für eine Einsparung von etwa 200 Tonnen CO2 gesorgt haben. Glauben Sie, dass solche Effekte nachhaltig sind oder kann es zu einem Rebound kommen?

Realistisch gesehen ist das nicht nachhaltig, im Gegenteil. Nachhaltig könnte es ja nur sein, wenn die Situation eine Systemveränderung hervorgebracht hätte, und in dem Fall fehlt die Möglichkeit dazu. Das bestehende System steht derart unter Stress, dass die Zeit fehlt, sich mit einer grundlegenden Veränderung auseinanderzusetzen. Realistisch gesehen können wir nur hoffen, dass die Wirtschaft in China allmählich wieder in Gang kommt, obwohl der Markt für viele chinesische Produkte in Europa und in Amerika momentan quasi brach liegt und China vor dem organisatorischen Problem steht, die Produktion wieder hochzufahren. 

Wir sehen aber in den Sektoren, in denen die Nachfrage in Europa und Amerika groß ist – bei den Masken, der Schutzkleidung, den Beatmungsgeräten –, wie es China innerhalb kürzester Zeit gelingt, so viel zu produzieren, dass wir entsprechend beliefert werden. Also ist auch der entsprechende CO2-Ausstoß sofort wieder da. Spannend ist jedoch die Frage, ob die erzwungene Veränderung der Lebensgewohnheiten der Menschen eine nachhaltige Veränderung bewirken kann. Vielleicht merken manche Menschen jetzt, dass es auch okay ist, mal zuhause zu sitzen, sich zu unterhalten oder Karten zu spielen. Man muss nicht unbedingt jeden Tag irgendwohin hetzen. Ein entschleunigtes Leben hat auch einen gewissen Charme. 

Foto: Universität Wien/Franz Pfluegl

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